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Beantwortung der Frage:
Was interessiert uns eigentlich das Thema AZ-Schließungsversuch?
Denkbar ist, daß in sogenannten Wettbewerb der Systeme jenes die Oberhand behält, das dem Idealtyp eines rein funktionierenden Systems am nächsten kommt. Ein 'real existierender Funktionalismus' würde dem 'real existierenden Sozialismus' den Rang ablaufen. "Furchtbar", werden die einen sagen, "Was wollen wir mehr?", die anderen.
B. Waldenfels
1989 gründete sich in Mülheim eine Initiative für ein selbstverwaltetes Jugendkulturzentrum. Sie war nicht die erste ihrer Art, die Reihe ähnlicher Initiativen läßt sich zurückverfolgen bis ins Jahr 1968. 1996 besetzte die Initiative eine leerstehende ehemalige Lederfabrik und bekam Ende 1996 die 'Alte Reithalle' im Zentrum Mülheims als den Ort zugewiesen, an dem sie ihre Vorstellungen eines autonomen Jugendkulturzentrums in die Praxis umsetzen konnte (zur Vorgeschichte des AZ s. "Ich weiß nicht, wie die sich das vorstellen ...").
Im März 2000, das Gebäude ist noch lange nicht fertig renoviert, steht das AZ im zuständigen Jugendausschuß der Stadt Mülheim plötzlich auf der Abschußliste, die 180.000 DM jährliche Unterstützung seiner Arbeit sollen komplett gestrichen werden. Die AZ-Aktiven reagieren mit öffentlichen Aktionen und politischen Gesprächen (und erfahren Solidarisierungen von verschiedensten kulturellen, politischen und Jugend-Gruppen Mülheims - vgl. als ein Beispiel unter vielen den Brief des Jungen Theater an der Ruhr an die Ratsmitglieder der Stadt und die Antwort des Mülheimer OB Dr. Jens Baganz) und erreichen schließlich die Aufhebung dieser Ausschußentscheidung: am 6.4.2000 beschließt der Rat der Stadt Mülheim die weitere Unterstützung der Arbeit des AZ für das folgende Haushaltsjahr (vgl. AZ-Lebensgeschichte).
Ein alltägliches Ereignis im Post-Anti-Sozialismus, ein austauschbares Beispiel, könnte man gegen eine (publizistische) Beschäftigung mit diesem Fall einwenden.
Die Antwort darauf ist: eben.
(Es) stellt sich die Frage, was sich nicht nur im Privaten, sondern auch im Öffentlichen zu tun lohnt. Gibt es über alles bloß funktionieren hinaus etwas, das der Tendenz zur Normalisierung und Homogenisierung unserer Gesellschaften widersteht?
B. Waldenfels
Sicher gibt es für den Schließungsversuch des AZ Gründe allgemeiner Art: es 'muß' gespart werden, eine Totalschließung ersetzt (vermeintlich) viele kleine Kürzungen. Wen es trifft, ist unter dieser Perspektive von keiner (oder nur lobbyistischer) Relevanz.
Die (plötzliche) Art und Weise des Abschußversuchs und v.a. die Argumentationsebene der AZ-Gegner lassen aber auch anderes vermuten. An die Arbeit des AZ wurden (sog. kulturelle und finanzielle) Beurteilungskriterien angelegt, die nicht nur die Aufbauarbeit ignorierten und damit und durch andere Falschmessungen faktisch Geleistetes geringer erscheinen ließen (das ist noch logische politische Strategie), sondern die geradezu ostentativ über das Selbstverständnis des AZ und der in ihm Arbeitenden hinweggingen (vgl. AZ-Konzept und Vorwürfe und Antworten).
Nimmt man als einen wesentlichen Aspekt dieses Selbstverständnisses den Anspruch (und - vielleicht gegen die Erwartung - seine beginnende Einlösung in den ersten Arbeitsjahren), nicht ein (zu konsumierendes) 'Kulturangebot' herzustellen, sondern einen Raum zu schaffen für individuelle und kollektive Kreativität, so klingt dies zunächst nicht so ordnungsgefährdend wie etwa im konkreten, politischen Sinn revolutionären Gruppen einen Ort für ihre Arbeit zu geben.
Ist es aber.
Und es steht zu vermuten, daß (teilweise bewußt, teilweise unbewußt) der z.T. unverhältnismäßig und gar irrational anmutende Haß, den einige (und nicht nur Politiker) gegen das AZ hegen, hier eine Ursache hat. In einer gesellschaftlichen Ordnung, die weniger mehr definiert ist durch einen eindeutigen politischen Dualismus und damit dem Kampf der herrschenden (und der Herrschenden) gegen konkrete, auf der Ebene der sog. Politik formulierte Gegenmodelle, als durch eine nahezu vollständige technokratische Durchdringung aller gesellschaftlichen Bereiche, stellt nicht der in seiner Identität fest umrissene politische Feind ein Problem dar (im Gegenteil wird er benötigt und dafür zur Not auch subsidiert), sondern ein Möglichkeitsraum, der (zunächst nur in seinen Grenzen) diese institutionelle Macht auflöst, sie damit erst spürbar macht und in Frage stellt bzw. stellen läßt.
Eine Parallele zum Theater ist für diese These herstellbar und vermag sie, an diesem Ort, zu erhellen: nicht das klassisch politische Aussagestück stellt heute die größte Gefahr für die bestehende Ordnung dar, sondern daß das Theater ein Spielraum ist, der Identitäten auflöst und anderes als in der bestehenden Ordnung möglich sinnlich denkbar werden läßt. Jede gesellschaftliche Formation gibt (nicht zusätzlich, sondern integral) ihren eigenen Denkraum vor (oder legt die Grenzendes möglichen Diskurses fest, was dasselbe ist). Ohne eine Umwälzung der gesellschaftlichen Ordnung einen solchen (bis ins Private reichenden) Durchdringungen entzogenen Ort zu erschaffen und zu beleben, ist eine fast paradox nicht nur anmutende, aber (noch) mögliche Arbeit, die, wenn sie gelingt, eine ebenso durchdringende Zersetzungskraft freisetzt. Das ist der Grund, warum Schauspieler gefährlich sind.
Daß im AZ (wie in vielen Theatern) auch andere politische Inhalte verbreitet werden als anderswo, ist offensichtlich (und als den konkreten Angriff erklärendes Faktum nicht zu übergehen - vgl. "Ich weiß nicht, wie die sich das vorstellen ..."). V.a. aber bildet es - wie andere, aber nicht (mehr) sehr viele Räume (die üblichen Kulturzentren, zu einem der ihren das AZ in einer der politischen Angriffsstrategien gemacht werden sollte, tun genau dies nicht) auch - ein Loch im (bewußten und unbewußten) Selbstverständnis unserer Gesellschaft. Als solcher Ort (topos) und zugleich Nicht-Ort (utopos) ist das AZ und seine Bekämpfung von exemplarischem politischen Interesse. Wenn die sog. freiheitliche Ordnung unserer Gesellschaft - in einer anderen Art als diktatorische Ordnungen - eine des Zwangs ist, stellen Räume wie das AZ (und anders das Theater) per se eine - in ihrer politischen Gefahr der freiheitlichen in diktatorischen Gesellschaften analoge - Opposition dar, die nicht integrierbar ist und also (vom Bürger wie von seinem Politiker) bekämpft werden muß. Und zwar genau in ihrem Möglichkeits-Charakter.
Stefan Schroer
Für die Zusammenarbeit bei der Erstellung der Dokumentation danken wir Wiebke Jaax, Peter Possekel, Sabrina Strehl und Franka ???
AZ-Lebensgeschichte
AZ-Konzept
"Ich weiß nicht, wie die sich das vorstellen ..."-Gespräch mit AZ-Gründern
Vorwürfe und Antworten
Brief des Jungen Theater an der Ruhr