Prozessbericht zum Verfahren am 24.08.2020 gegen zwei AZ-Mitarbeiter*innen am AG Mülheim nach Polizeiübergriff im Juni 2019
08.27.20
Liebe Freund*innen des AZs,
Im Folgenden berichten wir vom erfolgreichen Verlauf des Prozesstermins gegen die zwei Mitarbeiter*innen des AZs am vergangenen Montag, den 24.08.2020. Darunter dokumentieren wir das Schlusswort der freigesprochenen AZ-Mitarbeiterin. Zuletzt verweisen wir auf einen sehr informativen Redebeitrag über das Gewaltproblem der Essener Polizei, welchen es beim Protest gegen Polizeigewalt und Repression am selbigen Tag zu hören gab. Unter dem Link, den ihr ganz unten findet, kann der Beitrag angehört werden.
Mit dem Ergebnis des Gerichtsprozesses am 24. August konnten unsere beiden angeklagten Mitarbeiter*innen endlich etwas aufatmen. Zwar wurde vorerst nur eine der Angeklagten vollends freigesprochen, der Vorwurf des Widerstands wurde jedoch für beide fallengelassen. Leider müssen wir deshalb im Herbst noch einmal vor Gericht, um über den übriggebliebenen Vorwurf der Beleidigung zu verhandeln.
Ausschlaggebend für den Freispruch war, dass beide befragten Polizeibeamt*innen aussagten, sie hätten die Angeklagten als Zeug*innen belehrt und ihre Personalien für die Aufklärung einer Straftat benötigt. Laut §163b StPo dürfen Zeug*innen allerdings nicht zur Personalienabgabe gezwungen werden. Die Polizist*innen handelten also rechtswidrig und wussten augenscheinlich nicht über die Rechtslage Bescheid. Eine mehr als besorgniserregende Tatsache.
Im Laufe der über sechsstündigen Verhandlung gab es weitere Hinweise auf ein Fehlverhalten der Polizei. Schon der erste Zeuge, der die Polizei selbst gerufen hatte, weil er nach seinem Rauswurf von einem Unbekannten geschlagen worden sei, belastete diese schwer. Über die Festnahme des Angeklagten sagte er aus: „Einer kniete in seiner Kniekehle, ein zweiter im Rücken, der dritte an seinem Kopf.“ Während der Angeklagte bereits fixiert war, habe ein Polizist ihm ins Gesicht geschlagen, bis einer seiner Kollegen rief, dass es reiche. Derselbe Zeuge hat an dem Abend keine Personenbeschreibung seines Angreifers abgegeben. Ohnehin habe sich die Polizei nach ihrer Ankunft nicht mehr für ihn interessiert und verwies ihn stattdessen des Geländes. In der Akte findet sich aber eine Personenbeschreibung, auf welche die Polizist*innen vor Gericht zurückgriffen. Dabei kamen sie selbst durcheinander und gaben an, der Beschuldigte habe Dreadlocks gehabt, obwohl dies in der Akte nicht vermerkt war.
Von den Verteidiger*innen gab es zudem Kritik wegen formaler Mängel im Verfahren. Etwa, dass es keine zeugenschaftliche Vernehmung der Polizist*innen gegeben hatte. Stattdessen fertigten die am Einsatz beteiligten Beamt*innen lediglich ihre eigenen Aktenvermerke ohne zum Einsatz befragt worden zu sein. Ein Verteidiger rügte außerdem die Ausdrucksweise des Einsatzleiters vor Gericht. Der Einsatzleiter gab an, der Angeklagte habe „so ein bisschen in seinem Blut gelegen“, nachdem er ihn geschlagen hatte. Auf die Frage der Verteidigung, ob er nicht anders hätte reagieren können, erwiderte der Einsatzleiter lapidar, da „gebe es keine Regeln“. Das könne er so machen.
Dem AZ-Mitarbeiter wurde weiterhin vorgeworfen, den Einsatzleiter bespuckt zu haben. Bemerkenswert ist, dass der Polizist das bespuckte Hemd, das einzige potentielle Beweisstück, nicht aufhob, sondern entsorgte. Fotos existieren ebenfalls keine. Zusätzlich wurden die morgens auf der Polizeiwache Essen erkennungsdienstlich angefertigten Fotos, weder von Polizei noch der Staatsanwaltschaft, der Ermittlungsakte beigefügt. Auf den Bildern sind umfangreiche Verletzungen des AZ Mitarbeiters zu sehen, die der von den Beamt*innen geschilderten Geschichte widersprechen. Erst auf wiederholtes Betreiben der Verteidigung forderte das Gericht die Bilder an, so dass sie in der Verhandlung in Augenschein genommen werden konnten. Bei der später erzwungenen Blutentnahme beider AZ-Mitarbeiter*innen tat sich ein weiterer Rechtsbruch der Beamt*innen auf. Die Blutentnahme muss zuvor von einem Gericht oder der Staatsanwaltschaft angeordnet werden, während dies hier einfach der Dienstgruppenleiter der Polizei entschied. Zum Ende der Befragung des Einsatzleiters wollte die Verteidigung wissen, ob er sich bei den Angeklagten für das überzogene Verhalten entschuldigen wolle. Er entgegnete, dass AZ solle sich bei der Polizei entschuldigen, da es aus einer Lappalie solch einen Aufstand machen würde.
Der Prozess hat klar gezeigt, dass es sich hier nicht um eine Lappalie handelt. Die Polizist*innen begingen, neben der überzogenen Gewalt, eindeutige Rechtsbrüche. Aufgrund dessen wollen die Betroffenen nun die Polizist*innen wegen Körperverletzung im Amt anzeigen.
Keine Lappalie war das vergangene Jahr auch für die übrigen AZ-Mitarbeiter*innen sowie unsere Unterstützer*innen. Kaum wurde der Polizeiübergriff öffentlich bekannt, wurden die Mitarbeiter*innen öffentlich vorverurteilt. Rechte und Konservative im Stadtrat forderten prompt dem AZ die Fördermittel zu kürzen. Hieran zeigt sich einmal mehr, wie schwierig es ist gegen die Darstellung der Polizei anzukommen, (strukturelle) Probleme innerhalb dieser öffentlich zu kritisieren und schließlich auch Polizeigewalt als solche zu benennen.
Die Folge dieser Vorverurteilung war, dass unsere gesamte Arbeit als Jugendzentrum in Frage gestellt wurde und wir diese in den darauffolgenden Monaten vor Parteien und im Jugendhilfeausschuss verteidigen mussten. Damals beklagte die Polizei in einem WAZ-Artikel sie werde durch unsere Pressemitteilung derart falsch dargestellt, dass es dem Ruf der Polizei schaden könne. Sie reichte deshalb eine Verleumdungsklage gegen das AZ ein, welche aber eingestellt wurde. Tatsächlich war es genau anders herum. Während die Polizei Rückendeckung bekam, stand das AZ unter Generalverdacht. Der Fall wurde sogar bis in den Innenausschuss des Landtags getragen, wo die AfD die Anfrage stellte, wie viele Straftaten am und ums AZ-Gelände in den letzten Jahren begangen worden seien und ob das AZ und seine Besucher*innen vom Verfassungsschutz beobachtet würden.
Dabei ist das AZ ein fester Bestandteil der Jugendarbeit in Mülheim, sitzt in verschiedenen Jugendausschüssen und kam regelmäßig mit Polizei und Ordnungsamt zu einem Runden Tisch zusammen, um sich auszutauschen. Wir erwarten, dass das Urteil auch in der Mülheimer Stadtpolitik ein Echo hat und den Diskussionen um eine willkürliche Kürzung unserer Fördermittel damit ein Ende gesetzt wurde.
Die Gewalt gegen das AZ als linkes Jugendzentrum reiht sich ein in zahlreiche Fälle von -oftmals rassistischer- Polizeigewalt, die sich die Polizei Essen hat zu Schulden kommen lassen: Die Erschießung von Adel B. durch eine verschlossene Tür vor gut einem Jahr in Altendorf. Das Zusammenschlagen von Omar A. und seiner Familie in der eigenen Wohnung im April diesen Jahres. Oder im März, die Kriminalisierung und Misshandlung einer schwarzen Familie auf dem Essener Polizeirevier, die nur dort war, um selbst eine Anzeige wegen Diebstahls zu stellen. Auch hier rechtfertigte die Polizei ihr Verhalten, indem sie den Betroffenen Widerstand und Beleidigung vorwarf. Dies sind nur einige Fälle, die veranschaulichen sollen, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, sondern dass es in der Polizei Essen ein Problem mit Gewalt und Rassismus gibt.
Wir hoffen, dass dieser detaillierte Bericht anderen Betroffenen von Polizeigewalt eine rechtliche Stütze sein kann und das Urteil dazu beiträgt, endlich eine unabhängige Ermittlungsbehörde für Fälle von Polizeigewalt einzurichten, damit beim Verdacht auf polizeiliches Fehlverhalten das Ermitteln von Polizist*innen gegen andere Polizist*innen ein Ende hat.
Anschließend dokumentieren wir hiermit das Schlusswort der freigesprochenen AZ-Mitarbeiterin:
„Rückblickend gewinne ich den Eindruck, dass das ausufernde Verhalten der Beamt:innen am Morgen des 08.06.2019 auch daher rührte, dass sie wussten, dass es sich beim Autonomen Zentrum Mülheim um ein linkes Jugendkulturprojekt handelt, welches auch kritische Stimmen bezüglich der Polizei und dem Militär beherbergt.
In einer sich selbst als frei bezeichnenden Gesellschaft kann es aber doch nicht sein, dass Kritiker*innen von etwa Polizeibehörden auf Grund ebendieser kritischen Positionen, sobald sie nur verbalisiert werden, mit solchen Sanktionen zu rechnen haben wie wir am besagten morgen bis heute.
In einer sich selbst als frei bezeichnenden Gesellschaft sollte es möglich sein, die sogenannte „Cop Culture“ zu problematisieren: also den Korps-Geist der Polizei, ihre Verrohung und ihre Männlichkeit, sowie die autoritäts-basierten Persönlichkeitsstrukturen, welche die Polizei als Institution in ihrer aktuellen Beschaffenheit hervorbringt. Es muss möglich sein, offen darüber zu sprechen, dass die Polizeibehörden Menschen mit rechten und gewaltaffinen Tendenzen anziehen. Wenn doch immer wieder rechtsradikale Netzwerke in der Polizei, oder auch in der Bundeswehr, aufgedeckt werden, können wir uns nicht hinsetzen und so tun, als wäre alles in Ordnung mit unseren Behörden.
Es sollte möglich sein, diese kritischen Positionen zu vertreten, ohne dass sie geahndet werden. Vielmehr sollten auch kontroverse Positionen Gehör und Wertschätzung finden, denn sie sind eine Beteiligung an politischen Diskursen und der Ausgestaltung dieser Gesellschaft.
Des Weiteren schließt eine kritische Position keineswegs einen professionellen Umgang mit Beamt*innen aus, so wie wir ihn als Mitarbeiter:innen eines Jugendkulturprojektes pflegen – und so haben wir uns an dem Morgen auch gezeigt.
Interaktionen zwischen dem Autonomen Zentrum und der Polizei sind keine Sensation, denn es handelt sich auch um einen Veranstaltungsort, und wie an allen Veranstaltungsorten, kommt es dementsprechend ab und zu Polizeieinsätzen, mit denen wir einen alltäglichen und professionellen Umgang haben. Für gewöhnlich schafft auch die Polizei es in diesem Kontext, sich an diesen zu halten.
Außerdem setzt sich das Autonome Zentrum regelmäßig mit der Polizei, dem Ordnungsamt und dem Jugendamt an einen runden Tisch, um etwaige Komplikationen, Lärmbeschwerden oder sonstige Vorkommnisse im Alltagsgeschäft besprechen zu können.
Das alles unterstreicht, dass es unsererseits keinen Anlass gegeben hätte, aggressiv zu sein. Und nicht zuletzt hätte ich das Tor, vor welchem die Beamt:innen standen, nicht selbst und persönlich aufgeschlossen, wenn ich als Mitarbeiterin einen Grund dafür gehabt hätte, zu befürchten, dass eine reguläre Begegnung zwischen der Polizei und uns Mitarbeiter:innen so aus dem Ruder laufen würde.
Es stellt sich also die Frage, wie die Situation so aus dem Ruder laufen konnte, man davon ausgeht, dass es sich für mich, die ich das Tor überhaupt erst aufgeschlossen habe, um einen regulären Einsatz handelte, welchem ich als Mitarbeiterin auch wie gewohnt gesprächsbereit begegnet bin.
Eskaliert wurde die Situation, weil ich und andere es sich herausgenommen haben, während einer polizeilichen Maßnahme auf ihre Unverhältnismäßigkeit aufmerksam zu machen. Für einen Zusammenhang, der sich über seine Autoritätsposition definiert, scheint schon das einen solchen Affront darzustellen, dass die Reaktion auf dem Fuß folgte: Wir bekamen die physische und psychische Gewalt zu spüren, welche diese Autorität in Nachhinein wieder manifestieren sollte. Mit den Schäden müssen wir bis heute selbst zurechtkommen.
Anzeige erstattet habe ich nach dem Vorfall erst mal nicht, obwohl ich oft danach gefragt wurde. Manchmal, und so auch heute, wurde es mir sogar negativ ausgelegt, als ob das ja zeigen würde, dass ich etwas zu verbergen hätte oder die Vorwürfe haltlos wären.
Ich habe mich diesbezüglich nach dem Vorfall anwaltlich beraten lassen. Aber die marginalen Chancen auf Erfolg bei einer Anzeige gegen Polizeibeamt:innen, die Kosten, die dadurch entstehen, sowie die psychische Belastung durch den Mehraufwand haben überwogen, sodass ich mich ursprünglich dagegen entschieden habe.
Zudem ist es nun mal ein markantes Merkmal von Polizeigewalt, dass, wenn Betroffene sich äußern, sie in der Regel mit einer sogenannten Gegenanzeige zu rechnen haben. Und wenn es Wort gegen Wort steht kann eine nicht-Polizistin wie ich nicht davon ausgehen, dass ihr Wort so viel zählt wie das eines Beamten.
2019 wurde eine aufwendige Studie eines Kriminologen der Ruhr Uni Bochum mit dem Namen „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen“ veröffentlicht, es ist die bisher größte Untersuchung von rechtswidriger Polizeigewalt in Deutschland. Das Ergebnis unterstreicht, was ich meine: Jährlich werden etwa 2000 Übergriffe durch die Polizei bearbeitet, die Studie geht von einer Dunkelziffer von 10.000 Fällen aus. Und auch von den 2000 Fällen, die die Staatsanwaltschaft erreichen, münden nur weniger als 2% der Fälle in Gerichtsverfahren.
Die in der Studie benannten Gründe für die wenigen Anzeigen gegen die Polizei spiegeln meine eigenen Sorgen und ja offensichtlich auch meine in diesem Fall bisher gemachten Erfahrungen wieder.
Und nicht zuletzt habe ich keine Anzeige gestellt, weil ich ganz einfach nicht davon ausgegangen bin, dass der uns betreffende Fall dazu führen würde, dass tatsächlich wir nun hier sitzen und diejenigen sind, die sich verantworten müssen.
Ich wurde eines Besseren belehrt: Dass wir überhaupt als Angeklagte hier sitzen ist der Beweis dafür, dass der wortführende Polizist seine Drohung wahrgemacht hat, uns eine Straftat anzuhängen, wenn wir nicht spuren, uns nicht seinen unverhältnismäßigen Maßnahmen hingeben. Außerdem ist es der Preis, den wir dafür zahlen, das Verhalten der Polizei öffentlich kritisiert zu haben. Auch heutzutage scheint das ein Tabu zu sein, um dessen Erhalt sich die Polizei wahrlich bemüht.
Dieses Ausmaß der Repression sorgt dafür, dass ich mich nun doch gezwungen fühle, Anzeige zu erstatten gegen die Polizeigewalt, die ich erlebt und beobachtet haben. Und das obwohl die Erfolgsaussichten verschwindend gering und die Kosten hoch sind. Das fühlt sich widersprüchlich an, aber es ist die einzige Handlungsoption, die mir bleibt.
Ich hoffe, dass dieser Fall, so belastend er für mich und alle weiteren Beteiligten auch war und weiterhin ist, zumindest ein Schritt dafür sein wird, dass die Öffentlichkeit und verschiedenste Stellen sich weiter für die Einrichtung einer unabhängigen Behörde zur Untersuchung von Polizeigewalt einsetzen. Ich hoffe, dass es in Zukunft und mit Hilfe einer solchen Behörde Menschen ermöglicht wird, angstfrei Kritik auch an der Polizei und ihren Maßnahmen sprechen zu können.
Danke, dass Sie mir zugehört haben.“